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Stellen Sie sich vor, die Welt ist ein Dorf ... 

 

Stellen Sie sich vor, die Welt ist ein Dorf

 

 

 

Es ist ihr Dorf, umgeben von siebentausend Morgen Land und einem See - und rundherum Nichts. Sie sind der Älteste im Dorf und kennen nahezu jeden. Bei jeder Geburt sind sie einer der Ersten, welcher davon erfährt. Bei den Begräbnissen sind sie ganz vorne dabei, wenn der letzte Weg zu gehen ist. Oft in der ersten Reihe, wenn einer oder eine dem Hungertod erlegen ist oder kein Trinkwasser bekam. Dann sind sie der Einzige hinter dem Leichnam.

 

Heute leben (??) siebenhundert Menschen in dem Dorf. Etwas über hundert Menschen in Villen. Einige dieser stattlichen Gebäude grenzen an den See. Sie haben alles, sodass sich häufig die Tische biegen. Viele waren schon auf mehreren Plätzen zu Hause, da Männer und Frauen (und somit auch deren Kinder) ihre Partner getauscht haben, wenn einer der Partner nicht mehr so richtig funktioniert hatte.

Die anderen verbringen ihre Tage und Nächte in Hütten, von denen manche gerade Regen und Wind abhalten aber der Kälte nichts Erfolgreiches entgegenzusetzen haben.

 

In den letzten zehn Jahren hat sich dieser Zustand aber weiter zugespitzt.

 

Seit im Dorf die Dorfdukaten nicht nur Tauschwert für Güter und Arbeit waren. Manche haben entdeckt, dass man daraus mehr machen kann, indem man etwas kauft, von dem man annimmt, dass ein anderer später mehr Dukaten dafür zahlen wird. Das ist auch einige Zeit gut (so hin und her, von Villa zu Villa, die Hütten waren nicht im Spiel) gegangen. Dann gab es aber immer weniger, welche so viele Dukaten zahlen wollten und das Pyramidenspiel war aus. Nun hatten einige mehr und die anderen noch weniger. Am meisten geschadet hat das den Unbeteiligten, den Hüttenbesitzern. Die Besitzlosen sind diesem Namen immer gerechter geworden.

 

Der See ist im Bereich der Villen ganz nett anzusehen. Bis auf die Qualität des Wassers - sieht nicht sehr lebendig aus. Früher waren noch Fische im See. Heute kann man es Glück oder Zufall nennen, wenn ein Anglerhaken auf einen Fisch trifft. Häufiger ist es Gerümpel oder eine Plastikflasche, welche am Haken hängt.

 

Früher standen auch noch Rinder auf den Weiden. Und Hühner und Schweine. Da waren mehr als zweihundert Menschen in der Landwirtschaft tätig. Sie kannten jedes ihrer Tiere. Aber sie mussten schwere Arbeit verrichten und ihre Rücken krümmen. Heute sind es keine Zehn. Man sieht kein Tier mehr. Sie sind in Hallen untergebracht, genetisch hoch gezüchtet und auf maximalen Profit optimiert. 

Das bedeutet minimale Fläche, computergesteuertes Licht und Klima, exakt dosierte und zusammengestellte Fütterung mit vorbeugender Gabe von Antibiotika. Aber auch chirurgische Eingriffe – wie beispielsweise das Abhaken der Schnäbel - damit die Aggressionen der Tiere ihre Genossen nicht zu sehr verletzen.

Wenn die Leistungskurve sinkt, dann werden sie vernichtet. Aber das Leiden ist relativ kurz, außer die Tötungsmaschinen sind nicht gut eingestellt oder haben eine Störung. Aber dafür gibt es einen Anwendungstechniker, der sich um diese Ausfälle kümmert. Außerdem gibt es sogenannte Qualitätsstandards die eine Protokollierung der Ausfälle vorschreiben. Das wird auch gemacht, zumindest immer dann, wenn eine Überprüfung angekündigt ist. Denn Überprüfungen sind die Voraussetzung für eine Auszeichnung. Und unser moderner, nach dem neuesten Stand der Entwicklung funktionierender Fleischbetrieb ist stolz darauf.

 

Die Landarbeiter sind nun Büroarbeiter und sitzen vor Computern und wissen genau welches Nutztier, wie viel bringt. Roboter machen die Arbeit. Die Arbeit im Büro ist viel angenehmer. Man kann nebenbei in sozialen Netzwerken (beispielsweise im „Gesichtsbuch“) kommunizieren und sich mit einem Computerspiel entspannen und nebenbei die Reaktionsgeschwindigkeit beim Abschießen von unliebsamen Kreaturen deutlich steigern.

 

Früher gab es auch einen Bach, indem sich Fische und anderes Getier tummelten. Seit der Produktivitätssteigerung hat sich das etwas geändert. Manche behaupten, das sei die Gülle, von der unsere Fleischerzeuger nicht wissen wohin damit. Auch gibt es manche, welchen der sonderbare Geruch in die Nasen steigt und über Reizungen ihrer Atmungsorgane klagen.

 

Aber, wir können sagen, wir haben jetzt viel mehr Fleisch auf unseren Tellern. Auf manchen zumindest.  

Traenen

 

 

 

Früher gab es auch blühende Blumenwiesen. Zu jeder Jahreszeit, eine schier unendliche Pracht auf unseren Wiesen. Das sieht jetzt alles ein bisschen geordneter, überschaubarer aus. Viele Arten gibt es nicht mehr. Einige behaupten, das hänge mit den Nitraten zusammen, welche in den Boden gelangen.

 

Und da gibt es noch die Unwetter. Die Stürme von Orkanstärke und Starkregen haben in den letzen Jahren nicht so sehr den Villen zu Schaffen gemacht. Die Versicherungen haben das alles wieder zurechtgebogen. Aber den Hütten geht es seitdem noch schlechter.

 

Nicht vergessen darf man den Fortschritt in der Motorisierung. Nun haben wir bereits über fünfhundert Autos im Dorf. Im Durchschnitt drei pro Villa. Es gibt nun auch Straßen, um von einer Villa direkt zu einer anderen zu gelangen. Auch eine Rennbahn gibt es um den See. Die zehn Söhne von den reichsten Villen kämpfen um den Sieg. Regelmäßig finden Dorfrennen statt und am Jahresende bekommt der schnellste einen Pokal und eine Villa.

Es kommt immer wieder vor, dass Autos von den Wegen abkommen oder aneinander geraten und dann nicht nur die Autos schrottreif sind. Bei einigen Lenkern, Mitfahrern oder Menschen, welche zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort waren, gibt es nur den letzten Weg zur Grube. Aber die meisten kommen mit mehr oder weniger Beschädigungen davon.

 

Früher gab es auch mehr Raufereien. Manchmal haben sie sich die Schädel eingeschlagen oder den Kopf abgeschlagen. Heute sieht man weniger davon. Es ist alles etwas raffinierter, feiner. Mit mehr Technik, Software und Elektronik oder auch mit Chemie.

 

Auch in der Wirtschaft ist der Fortschritt nicht zu übersehen. Es gibt Dukateninvestierer, Berater, Marktforscher, Werber, Internetcafés, Trinkhallen, Handyshops, Spielhallen, Versicherer, Psychotherapeuten und Fitnessstudios. Manche behaupten das hänge mit den Fernbedienungen zusammen. Umfragen zufolge gibt es im Durchschnitt drei Fernbedienungen pro Villa. Heute müssen die Villen auch nicht mehr den Rasen mähen oder das Laub einsammeln. Das machen Roboter. Die modernen funktionieren schon ohne Fernbedienung. Die bedienen sich selbst.

 

Alles andere bringt der Versandhandel. Beispielsweise die Kleider. Die werden von den Hütten in Lohnarbeit gefertigt. Der Versandhandel bringt den Hütten auch die notwendigen Materialien. Seitdem die Todesrate wegen den an Hunger Verschiedenen angestiegen ist, bekommen die Hütten jetzt einen Dukaten pro Woche. Damit können sie sich sieben Schalen Reis kaufen oder ein halbes Kilogramm tiefgekühltes Faschiertes von unserer Fleischfabrik. Jetzt entspricht dieser Lohn etwas mehr als zwei Prozent vom Preis, den die Villen (ihnen gehört der Versandhandel) für die Produkte verlangen.

 

Morgen gibt es die „Rede zur Lage“ im Dorf. Am Dorfplatz gibt es Tische, welche zu diesem Anlass zu einem großen Kreis aufgestellt werden. Dort nehmen dann die Dörfler platz.

Soweit die Menschen können, kommen sie zu dem Fest, das alle 4 Jahre stattfindet. Es ist Tradition, immer der Älteste hält eine Rede über „die Lage im Dorf“.

 

Seit Tagen sind Sie nun beschäftigt. Diese Rede lässt ihren Gedanken keine Ruhe. Wie werden Sie die Rede anlegen. Es ist doch in Ordnung, unser Dorf, die Welt? Sieht doch viel besser aus, als wir das von unseren Vorfahren wissen.

Werden Sie vom Fortschritt erzählen und um wie viel besser es manche Menschen heute haben. Und, dass früher Menschen schon viel früher gestorben sind, kein Handy hatten und sich auch nicht in der Spielhalle am Flipperautomaten vergnügen konnten.

Wir sollten stolz sein auf unsere Leistungen und den Fortschritt, könnten Sie sagen. Oder?

 

Und Sie werden sich vorstellen, wie das ist, wenn sie dann in die Augen am runden Tisch blicken. 

 

Was werden diese Augen sagen? 

... aus dem Buch Wie viel Verrücktheit geht noch?

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